Chicago
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Chicago, Chicago – my kind of town

von Gabriele Gugetzer
Sonntag, 01.07.2018
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In den 1770er-Jahren noch eine Ansammlung von ein paar Holzhütten, wuchs Chicago im 19. Jahrhundert im Rekordtempo. Nach dem Ende des Bürgerkriegs stieg die Stadt rasant zur Fleischbank der Welt auf: Nirgendwo wurden mehr Schweine geschlachtet, auch hat die Liebe der Amerikaner zu Rindfleisch hier ihren Ursprung. Qualitätsfleisch ist noch heute ein ganz wichtiges Thema in der Stadt, die Steakhäuser sind hervorragend und, wie der Tortoise Supper Club, durchaus elegant eingerichtet.

Mittlerweile setzt Chicago überdies auf Fine Dining von Weltrang, zeitgemäßes Plate-Sharing, Farm-to-Table-Konzepte. Pizza und Hot Dog sind Klassiker, das einzige Macau-Restaurant der USA hat ebenso Fuß gefasst. Grant Achatz (nachvollziehbar) ausgenommen, ist der Genuss übersichtlich eingepreist. Vorspeisen baumeln sich bei 15 $ ein, Hauptgerichte liegen selten über 40 $, alles andere würde man boykottieren. Im Mittleren Westen regiert der gesunde Menschenverstand; natürlich sind auch die Mieten nicht so astronomisch hoch wie in San Francisco oder New York.

Bars waren und bleiben Trend. Wenn sich im Winter Eisschollen auf dem Chicago River verhakeln oder die Avenues entlangschieben (was diese Autorin mit offenem Mund vom Hotelfenster aus beobachten durfte), braucht man was Wärmendes, keinen knackigen Weißwein, der nach frisch gestärktem Leinen duftet. Auch im heißen Sommer beginnt der Abend mit einer gehörigen Umdrehung im Glas. Craft-Bier ist dazugekommen. Eine neue Mixer-Generation ist weiblich und experimentierfreudig.

Fine Dining und coole Köpfe

Bis in die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts war die gehobene Küche der Stadt europäisch geprägt. Kein Wunder, könnte man meinen, war Chicago ursprünglich ja eine europäisch geprägte Einwandererstadt. Aber der Blickwinkel hatte sich auf Frankreich verengt, bis der leider früh verstorbene Charlie Trotter damit aufräumte und den Grundstein für eine ganz eigene Küchensprache legte. Sein Vermächtnis führen Köche fort, die bei ihm gelernt haben oder von ihm inspiriert wurden. Grant Achatz, auch ambitionierten deutschen Köchen ein Vorbild, betreibt drei ­außergewöhnliche Restaurants, die dem Gast aromatisch etwas abverlangen, ihn ohne Kasperkram unterhalten und in dieser Mischung erfolgreich sind. So erfolgreich, dass man sich für den Dreisterner Alinea eine besondere Reservierungsmethode ausdenken musste. Die Abende werden nach Tischen vergeben, nicht nach Personen. Gibt’s beispielsweise für ein Pärchen nur noch einen Drei-Personen-Tisch, bezahlen die entweder für drei (pro Person kann das bis 400 $ kosten) oder holen sich über eine Warteliste einen womöglich wildfremden Dritten dazu. Das Alinea steht auf Platz 21 der World’s Fifty Best und ist eines von nur zehn Dreisternern im Land, die Gäste kommen aus der ganzen Welt. Innovation steht hier und in seinen anderen ­Restaurants ganz oben auf der Karte, im Next wird sogar alles außer der Einrichtung alle drei Monate völlig neu überdacht und umgesetzt. Mit weniger Talern geht das auch: Fine Dining ohne berühmten Namen offeriert der Zweisterner Oriole.

Koch und Manager – das gibt’s in Chicago

Auch Paul Kahan gilt als Motor der Chicagoer Küche. Der einstige Koch hat sich zum Manager entwickelt und über die Jahre Restaurants mit ganz unterschiedlicher Ausrichtung an den Start gebracht. Kahan selbst ist in einem klassischen Deli, wie es sie heute selten gibt, aufgewachsen und betrieb schon als Steppke die Räucherkammer. Er pflegte enge Kontakte zu Bauern und Züchtern, als das noch nicht angesagt war. Sein wohl einladendstes Restaurant ist das Blackbird. Die Foodoptik ist elegant, die Klientel ist genauso nett wie die Bedienung, die Produktqualität leuchtet. Ein Striploin mit Kastanienmole und getrüffeltem Wirsing für 42 $ oder ein auf offenem Feuer gegrillter Stör mit Kabochagemüse, Haselnüssen und Bries für 40 $ sind schon zwei gute Gründe, nach Chicago zu fliegen.

Rick Bayless ist das dritte kulinarische Gesicht der Stadt. Mit dem Frontera verhalf er der mexikanischen Küche zu Ansehen und unterstützt mit der Frontera Farmer Foundation überdies Bauern im Umland, die für nachhaltige Projekte ein bisschen Cash brauchen. Mittlerweile betreibt auch er mehrere Restaurants; im fischorientierten Neuzugang Leña Brava wird ausschließlich am offenen Feuer gefackelt … Um solche Freiheiten kann man die Amerikaner beneiden!

Ein ganz neues Konzept verfolgt Smyth & The Loyalist: oben Fine Dining, unten Burger. Die Chefköche haben bei Charlie Trotter gelernt, fermentieren wie der Teufel und suchen den Schulterschluss mit Bauern, die ihnen im Radius von 20 Meilen alles zwischen essbaren Blüten und alten Erdnusssorten anbauen. Ein Verkostungsmenü mit acht Gängen liegt bei etwa 135 $, Foie gras oder Vergleichbares ist da schon dabei.

China meets Portugal

Doch Chicago kann nicht nur chic. 77 Stadtteile zählt die Drei-Millionen-Stadt, viele davon ethnisch geprägt, zwischen Puerto Rico und Polen, Vietnam und Indien, Malaysia und Irland. Entsprechend stehen kleine Nachbarschaftsrestaurants an jeder Straßenecke. Einige Länderküchen eignen sich auch für den großen Auftritt. Das Fat Rice im Trendviertel ­Logan Square ist eines der spannendsten. Hier wird gebacken, hier werden Cocktails gemixt, und hier wird die Macau-Küche, dieser unverwechselbare Mix aus China und Portugal, zelebriert. Das Fat Rice ist jung, sexy, ausgelassen, lustig, wuselig, was interessanterweise Menschen aller Alters- und Einkommensklassen anspricht. Küche und Cocktails sind wirklich hervorragend.

Chinesische Küche gehört zu den Länderküchen, die es in die exklusiven Innenstadtecken geschafft haben. Das Imperial Lamian hat einen eleganten Gastraum, in dem es sich trotzdem um ein spottbilliges Nahrungsmittel dreht, Nudeln. Die Küche ist offen, man darf zuschauen, wie La Mian von Hand gedreht, gezogen, gezwirbelt und in die Teller gelupft werden. Das ist perfekt: Die Aufwertung eines Produkts, das in der Herstellung fast nichts kostet, aber ohne Können auch nicht schmeckt.

Farm to table und selbst gebrautes Bier

Erntefrische Erzeugnisse sind im Sommer nix Besonderes, auch Chicago hat seine Bauernmärkte und ist stolz darauf, im Mittleren Westen so tief verwurzelt zu sein. Aber während des Rests des Jahres? Das Farmhouse serviert was Handfestes, Burger, Spätzle, Piroggen, alles frisch, alles aus der Umgebung. Ihr Bier brauen sie selbst, die Dosen sehen ziemlich chic aus. The Bristol bietet Brunch für Mutti, frittiert seine Pommes frites in Gänseschmalz und ist auch sonst mit Gänseschmalz sehr freigiebig – Chicago ist eben nicht California und Clean Eating.

Von wegen Shots!

Lily Crabtree sieht aus wie eine Klosterschülerin. Sonat Birnecker verdiente das Geld fürs Studium als Model. So lesen sich auch andere Lebensläufe in der Barszene, vielleicht nicht überraschend, dass die Shot-Kultur in Chicago langsam von Könner-Cocktails abgelöst wird. Heute gehört Birnecker und ihrem Mann die international angesehene Destillerie Koval, eine der größten unabhängigen Destillerien des Landes. Sie machen Whiskey, Liköre und Brände, die Destillerie kann besucht werden. Lily Crabtree mixt im Girl & the Goat, The Violet Hour, ebenfalls ein Kind von Paul Kahan, will mit seinem Stil an die Cocktails vor der Prohibition anknüpfen, ohne die es einen berühmten Sohn der Stadt nicht gegeben hätte. Wen? Richtig! Al Capone.

Plate-Sharing mit DJ

Aus der Tapas-Idee entstanden ist das ­Plate-Sharing, auch in Deutschlands Szenerestaurants angesagt. Die Teller kommen, sobald die Küche damit fertig ist, jeder am Tisch bedient sich, die Stimmung ist kommunikativ, Essen ist auch Genuss, aber doch eher Unterhaltung. Im Beatnik wird eine riesige Auswahl internationaler Häppchen zu wummernder DJ-Musik unter Palmwedeln serviert.

Und so richtig oldschool geht auch!

Chicagos wohl bekanntester kulinarischer Export ist die Deep Dish Pizza, zu der hier keine Empfehlung veröffentlicht wird, weil jeder Einwohner seinen Geheimtipp hat. Oder fragen Sie einfach Steve Dolinsky, der Ihnen auch erzählen wird, was es in der Pizzakultur zukünftig Neues gibt. Obacht beim Hot Dog. Der darf nur die sieben geheiligten Zutaten enthalten: milden Senf, Pickle Relish, fein gehackte Zwiebel, Tomatenscheiben, einen Streifen Gewürzgurke, Peperonischeiben und Selleriesalz. Das alles wandert mit einem gedämpften oder gegrillten Würstchen in ein Hot-Dog-Brötchen, das mit Mohn bestreut ist. Wer dazu Ketchup bestellt, riskiert bestenfalls verächtliches Gelächter, schlimmstenfalls einen Satz heiße Ohren.

Tipps:

  • Die korrekte Aussprache ist ein charmantes Schi…, kein verschnupftes Ha-Tschi.
  • Die Trendviertel Wicker Park, ­Logan Square und Bucktown erkunden.
  • Chicago ist die Wiege der modernen Architektur. Nach oben gucken, auf dem Chicago River eine Bootstour mitmachen oder in der Chicago Architecture Foundation an einer deutschsprachigen Architekturführung teilnehmen.
  • Fürs Trinkgeld viele Ein-Dollar-Noten bereithalten. In den Bars ist bei jeder Bestellung ein Trinkgeld von einem Dollar Usus.
  • Steve Dolinsky ist ein Kenner der Stadt, der Kulinarik und der Pizza. Unter www.pizzacityusa.com kann man ihn aber auch für kleine private Touren durch andere Restaurants der Stadt buchen.
  • Nachts oder ab vom Schuss das Taxi benutzen, Waffengewalt ist ein Problem in der Stadt, dazwischen sollte man nicht geraten.

Adressbox

Tortoise Supper Club, www.tortoisesupperclub.com
Grant Achatz

Oriole Chicago, www.oriolechicago.com

Paul Kahan (Auswahl)

Rick Bayless (Auswahl)

Smyth & The Loyalist, www.smythandtheloyalist.com
Fat Rice, www.eatfatrice.com
Imperial Lamian, www.imperial-lamian.com
Farmhouse, www.farmhousechicago.com
The Bristol, www.thebristolchicago.com
Koval Distillery, www.koval-distillery.com
Girl & the Goat, www.girlandthegoat.com
Beatnik, www.beatnikchicago.com
Der Original-Text aus dem Magazin wurde für die Online-Version evtl. gekürzt bzw. angepasst.

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