Im Norden geht die Sonne auf
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Im Norden geht die Sonne auf

Von wegen Smörrebröd – in Skandinavien ist in den letzten Jahren ein Kulinarik-Mekka der Sonderklasse entstanden

von Daniela Müller
Freitag, 02.09.2016
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Bis zur Jahrtausendwende hatte ­Skandinavien kulinarisch betrachtet ­einen ziemlich miesen Ruf. Und das vollkommen zu Recht. Die Top-Gastronomie war fad und teuer, und das, was man in billigeren Lokalen bekam, war zumeist wirklich schlecht. Zwar hat sich vor allem die ländliche Bevölkerung traditionell mit regionalen Lebensmitteln wie Käse, Wurst, (Fladen-)Brot, Elch- oder Rentierfleisch und natürlich Fisch ernährt, aber die Winter waren lang und kalt, Ackerbau und Viehwirtschaft dadurch schwierig bis unmöglich. Ein ideales Pflaster für die internationale Convenience- und Fast-Food-Industrie.

Wenn man heute durch Kopenhagen oder Stockholm spaziert, findet man an jeder Ecke empfehlenswerte Lokale, und die Top-Adressen zählen zu den bekanntesten Res­taurants der Welt. Trotz der hohen Preise sind auch die teuersten Restaurants fast durchgehend ausgebucht. Wie kam es dazu, dass aus Völkern, die sich hauptsächlich von Tiefkühlpizza und Dosennahrung ernährt hatten, praktisch über Nacht Nationen von Feinschmeckern wurden?

Landkarte Skandinavien
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Ein dickes Kind macht Karriere

Die Entwicklung des nordischen Kochwunders lässt sich am besten anhand des Lebenslaufs von Claus Meyer erzählen, der als Mitbegründer des legendären ­Restaurants Noma und später als überaus erfolgreicher Unternehmer einer der wichtigsten Protagonisten dieser Bewegung war und ist. Er wurde 1963 geboren und wuchs wie fast alle Mittelstandskinder mit einem Mix aus Tiefkühl- und Dosennahrung auf. Unterwegs gab es billiges Fast Food. Richtig gekocht – also ­Essen, das aus frischen Zutaten zubereitet wird – wurde zu Hause nie. So wurde aus dem heute blendend aussehenden Mittfünfziger ein dickes Kind mit gesundheitlichen Problemen. Ein Au-pair-Aufenthalt in Frankreich änderte alles. Zurück in Dänemark, begann er neben seinem Wirtschaftsstudium, für andere Studenten zu kochen, und weil das Geld knapp war, hat er sich beim Einkauf auf billige saisonale Produkte konzentriert. Er hatte damit so viel Erfolg, dass Meyer 1999 als Koch eine Sendung im ­dänischen Fernsehen bekam.

Sein Engagement für eine frische Küche bei gleichzeitiger Fokussierung auf regionale Grundprodukte entstand also, lange bevor das Noma eröffnete. Was er damals mit René Redzepi, der das Noma heute noch führt, plante, war wirklich revolutionär, weil es nichts Vergleichbares gab. Eine Rückbesinnung auf die traditionelle Küche – wie man sie etwa in Italien pflegt – war nicht zielführend. Die protestantische Ethik hatte gutes Essen immer verdammt. Anstatt mit der Oma zu reden, lasen sie also lieber das Survival-Manual der schwedischen Armee, wo geschildert wird, wie man sich in der Wildnis von Pflanzen ernähren kann.

Operativ hat sich Meyer schon längst vom Noma verabschiedet. In den letzten Jahren hat er ein eigenes Food-Imperium aufgebaut, das eine Bäckerei, einen Jazzclub, Restaurants und ein Catering umfasst. ­Außerdem hat der ­Tausendsassa das Restaurant Gustu samt Forschungs- und Schulungszentrum in Bolivien gegründet. Sein letzter Streich war die Konzeption eines Nordic-Food-Courts in der Grand Central Station in New York.

Rasmus Kofoed
Qualität, Geschmack, Reinheit – Attri­bute,
die alle Kreationen von Geranium-
Chefkoch Rasmus Kofoed gemein haben.
Foto: Geranium

Eins, zwei, viele

Spätestens mit der Kür zum besten Restaurant der Welt waren das Noma und die damit assoziierte »New Nordic Cuisine« in aller Munde. Wäre Redzepi ein einsamer Einzelkämpfer gewesen, würde man heute wohl trotzdem nicht über eine Bewegung sprechen, die weltweit zu einer Marke geworden ist. Viel wichtiger ist, dass sich auch das Bewusstsein für Ernährung in Skandinavien nachhaltig verändert hat. »Wir sind ein wohlhabendes Land, und es hat immer Leute gegeben, die teuer essen gegangen sind. Aber bis vor zehn Jahren waren alle teuren Restaurants französisch. Je mehr Produkte importiert wurden, desto besser. Heute wird in unseren besten Restaurants skandinavisch gekocht, und das Publikum ist viel bunter und jünger geworden. Gut essen zu gehen, ist keine snobistische ­Attitüde reicher Leute mehr, es ist ein Teil unserer Alltagskultur geworden«, erzählt der 2-Sterne-Koch Søren Selin vom Restaurant AOC.

Heute wird in unseren besten Restaurants skandinavisch gekocht

Søren Selin,
Koch im AOC

Moderne skandinavische Küche findet Anerkennung

Auch wenn es keinen eigenen Michelin-Guide für Skandinavien gibt und die Wertungen aus dem Guide »Main Cities of ­Europe« stammen, ist die französische Feinschmecker-Bibel doch ein gewisser Indikator für den kulinarischen Stellenwert einer Stadt. Mit dem AOC und Noma hat Kopenhagen aktuell zwei Restaurants mit zwei Sternen und 15 weitere mit einem Stern. Ein Gutteil dieser Lokale hat sich der New Nordic Cuisine verschrieben. Darüber hinaus gibt es mittlerweile über die ganze Stadt verstreut Dutzende weitere Lokale, die nicht unter die Kategorie »Fine Dining« fallen, aber eine moderne skandinavische Küche bieten.

»Die meisten Touristen, die wegen des Essens nach Kopenhagen kommen, wollen einen Tisch im Noma, Geranium und AOC ergattern, weil dies unsere berühmtesten Restaurants sind. Aber mittlerweile kann man hier auch für relativ wenig Geld, etwa in den Madklubben-­Lokalen, gut skandinavisch essen«, meint Kristian Brask Thomsen, der selbst zwei Restaurants betrieben hat und seit acht Jahren als selbstständiger PR-Berater für die Top-Gastronomie tätig ist.

Ei auf Teller
Natur pur auf dem Teller: biodynamisches Eigelb à la Rasmus
Kofoed. Foto: Geranium

Ohne Olivenöl kochen

Doch wodurch zeichnet sich diese so hochgerühmte Küchenlinie eigentlich aus? Zuerst einmal durch Regionalität und Saisonalität. Das mag aus deutscher Sicht nicht sonderlich spannend klingen, war für Dänemark aber tatsächlich ein Paradigmenwechsel. In seiner extremsten Form wird das von René Redzepi im Noma praktiziert. Bis auf Kaffee und Wein werden nur skandinavische Produkte verwendet. Nicht einmal Olivenöl kommt zum Einsatz. ­Damit er über den finsteren dänischen Winter kommt, wenn es kein frisches Obst und Gemüse gibt, setzt er auf alte Konservierungstechniken wie Dörren und Fermentieren statt auf den Tiefkühler. So hat die New Nordic Cuisine nicht nur ­einen eigenen ­Geschmack, sondern auch einen eigenen Stil erhalten. ­Außerdem arbeiten Redzepi & Co. gerne mit einfachen Pro­dukten. Ein ­ty­pischer Noma-Gang ist Zwie­bel mit grünen ­Erdbeeren und selbst angesetztem Essig. Auch der Trend, Desserts statt aus Schokolade oder Früchten mit Gemüse zu machen, stammt aus Skandinavien.

Noma
Foto: Noma

Bio-Pioniere statt Schweinemast

Der New Nordic Cuisine liegt auch ein gesellschaftlicher Wandel zugrunde. Bis zur Jahrtausendwende war den wenigsten Dänen wirklich bewusst, wie radikal sich ihre Landwirtschaft gewandelt hatte. Die meisten hatten noch ein romantisches Bild von selbstständigen Bauern im Kopf, die sich liebevoll um ihre Höfe kümmerten. Tatsächlich hatte sich Dänemark zu einem der größten Schweinefleisch- und Milchproduzenten Europas entwickelt, was nur mit intensivster Massentierhaltung möglich war. Eine Rückbesinnung auf gutes, regionales Essen – wie es im Rahmen der New Nordic Cuisine proklamiert wird – ist gleichzeitig eine Absage an diese Form der Landwirtschaft. Fisch und Meeresfrüchte spielen eine große Rolle. So frisch wie bei meinem letzten Noma-Besuch, als es galt, lebendige Mini-Garnelen aus einem Rex-Glas zu fangen, bekommt man Meeresfrüchte zwar nur selten, aber das ist ja auch nicht jedermanns Sache.

Parallel zur Entwicklung der New Nordic Cuisine hat sich Skandinavien übrigens auch als europäisches Epizentrum der Craft-Bier-Szene etabliert. Mikkeller ist heute weltweit ein Begriff, aber auch schwedische und norwegische Kleinbrauereien sorgen international für Furore. Die Zeiten, als man sich mit Carlsberg oder Tuborg begnügen musste, sind lange vorbei.

Restaurant
Das Noma wurde u. a. dreimal in Folge als bestes Restaurant der
Welt ausgezeichnet. Foto: Noma

Handwerkliche Spitzenleistungen

Weil einige Gerichte mit relativ kurzen Garzeiten auskommen oder gar roh serviert werden, sprechen manche Kritiker den nordischen Köchen großes Können ab – rohe Zutaten auf dem Teller zu arrangieren, sei schließlich keine Kunst. Tatsächlich gibt es in ganz Skandinavien – nicht nur in Dänemark – sehr gut ausgebildete Köche, die – noch lange bevor die New Nordic Cuisine zur Marke wurde – international für Furore sorgten. Seit 1987 wird alle zwei Jahre in Lyon mit dem Bocuse d’Or der bedeutendste Kochwettbewerb für Köche unter 30 Jahren veranstaltet. Bei 15 Auflagen mit insgesamt 45 Medaillen konnten skandinavische Köche sieben Mal gewinnen und 21 Medaillen abräumen. Der aktuelle Sieger aus dem Vorjahr heißt Ørjan Johannessen aus Norwegen, hinter dem Amerikaner Philip Tessier eroberte der Schwede Tommy Myllymaki Bronze. Gerne wird angeführt, dass skandinavische Vertreter auf die Unterstützung der (Fisch-)Industrie zählen dürfen, doch schmälert das deren Leistungen in keiner Weise.

Grünes Essen auf Teller
Foto: Noma

Schweden – Finnland – Norwegen

Die skandinavischen Länder haben zwar viel gemeinsam, doch handelt es sich bei ihnen um unabhängige Staaten mit ganz speziellen Eigenheiten. Norwegen ist (neben Island) das einzige skandinavische Land, das nicht Mitglied der EU ist. Finnland ist zwar geografisch, aber nicht sprachlich Teil von Skandinavien. Bei Klima, Fauna und Flora, sind sich die Länder dafür sehr ähnlich.

Abgesehen von Oslo gibt es in Norwegen keine bemerkenswerte Restaurant-Szene, und auch Oslo selbst ist nicht gerade als Feinschmecker-Destination bekannt, so gut der Fisch in den dortigen Top-Restaurants auch sein mag. Helsinki hat zwar eine überaus lebendige Restaurant-Szene, in puncto Qualität kann es jedoch weder mit Kopenhagen noch mit Stockholm mithalten. In Stockholm hat vor allem Magnus Ek mit seinem Restaurant Oaxen Krog entscheidend an der Entwicklung der New Nordic Cuisine mitgewirkt. Als das Restaurant noch auf einer kleinen Insel außerhalb der schwedischen Hauptstadt lag, hat er Beeren, Moose und Pilze gesammelt und diese in seine Menüs eingebaut. Seit ein paar Jahren befindet sich das Oaxen Krog mitten in Stockholm, wodurch die Gästezahl deutlich gestiegen ist. Ebenfalls mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet sind die Stockholmer Restaurants Frantzén und Matsalen.

Claus Meyer
Foto: Claus Meyer

Nachahmenswerte Initiative

Als Claus Meyer im Vorjahr beim Culinary Art Festival in Salzburg sprach, wurde er gefragt, wie es gelingen konnte, Skandinavien binnen weniger Jahre als kulinarische Destination zu etablieren. Und: Wieso gelingt es anderen Ländern nicht, sich ähnlich attraktiv zu positionieren? Seine Antwort war bemerkenswert: Als touristische Initiative war das Unterfangen nie geplant gewesen. Am Anfang stand ein hoher Leidensdruck. In erster Linie ging es darum, eine fehlgeleitete Entwicklung bei der Ernährung zu korrigieren, und das schafft man am leichtesten mit Pionieren in der Top-Gastronomie. Um dabei Erfolg zu haben, brauche man neben charismatischen Protagonisten aber auch den Zusammenschluss von Landwirtschaft, Gastronomie und Nahrungsmittelindustrie. Die touristische Bewerbung habe ihn nie interessiert. Zuletzt hätten sich skandinavische Top-Köche gemeinsam dafür eingesetzt, dass jedes Schulkind das Recht habe, auch kochen zu lernen. Das sei viel wichtiger.

Noma

Das Noma ist heute das wahrscheinlich berühmteste Restaurant der Welt. Der Name ist Programm. Noma ist eine Abkürzung für »nordisk mad« (nordisches Essen). Gegründet wurde es 2003 von den beiden Köchen René Redzepi und Claus Meyer, wobei sich rasch herauskristallisierte, dass Redzepi der bessere Koch und Meyer der bessere Geschäftsmann ist.

Im ersten Jahr war das Gästeinteresse derart schwach, dass die beiden schon mit einer baldigen Schließung rechneten. Doch dann gelang es ihnen – gemeinsam mit anderen Kollegen –, Politik und Medien für ihr Thema zu interessieren. Schließlich war ihr Anliegen, die nordische Küche und die dazugehörigen Lebensmittel zu promoten, ein hochpolitisches Thema, weil es gleichzeitig eine agrarische und volks­gesundheitliche Dimension hatte. Dass daraus auch ein Faktor für den Tourismus entstehen könnte, war damals noch kein Thema.

»Bestes Restaurant der Welt«

In den nächsten Jahren etablierte sich das Noma als spannendstes Restaurant Dänemarks und hat zunehmend auch international für Aufsehen gesorgt. Profitiert hat Redzepi dabei zweifellos auch von der »50 Best List« des britischen Restaurant-Magazins, die 2002 erstmals veröffentlicht wurde. Immer auf der Suche nach neuen und spannenden Restaurant-Konzepten, entdeckten die Tester das Noma. Schon der Einstieg im Jahr 2007 war mit Platz 15 mehr als bemerkenswert. 2008 wurde es 10., 2009 Dritter, und von 2010 bis 2012 wurde es dreimal hintereinander als bestes Restaurant der Welt ausgezeichnet.

Während der Olympischen Spiele in London 2012 eröffnete ein Noma-Pop- up im noblen Claridge’s Hotel, im Frühling 2016 übersiedelte man mit einem Pop-up-Konzept für zehn Wochen nach Australien. Auch in Sidney waren alle Tische binnen weniger Minuten vergeben. Zu Silvester 2016 wird übrigens Schluss sein – zumindest in der jetzigen Form. René Redzepi geht zwar noch nicht in Pension, will dann aber etwas ganz anderes machen. Wir dürfen gespannt sein.

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