Weiße Nächte im hohen Norden St. Petersburg
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Weiße Nächte im hohen Norden

St. Petersburg hat neben kulturellem Reichtum auch kulinarisch viel zu bieten

von Wolf Demar
Dienstag, 25.08.2020
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Wer durch die prächtige Innenstadt von St. Petersburg schlendert, kann kaum glauben, dass es hier vor hundert Jahren zu dramatischen, weltbewegenden Umbrüchen kam. Die bürgerliche Februar-Revolution von 1917 führte zum Ende des Zarenreiches, die darauffolgende Oktober-Revolution brachte dann eine sozialistische Herrschaft, die rund um den Globus Auswirkungen hatte. Aus dem imperialen Russland wurde die Sowjetunion, St. Petersburg wurde zuerst in Petrograd und 1924 in Leningrad umbenannt. Es mag zynisch klingen, aber die gut 70 Jahre andauernde Sowjetherrschaft hatte für diese wunderschöne Stadt auch ihr Gutes. Die historische Altstadt von St. Petersburg blieb im Originalzustand erhalten.

 

Kuznya House
Foto: Kuznya House

Das Tor zum Westen

Die 1991 wieder gewonnene Freiheit zeigte sich in St. Petersburg auch kulinarisch. Statt in staatliche Kantinen strömte die Jugend zunächst zu Kentucky Fried Chicken und McDonald’s, die als Symbole westlicher Pop-Kultur auf Anhieb populär waren. Und auch im Luxus-Segment waren zunächst westliche Werte gefragt. Neben französischen Spitzenköchen wurden auch deutsche Küchenchefs wie Juan Amador oder Heinz Winkler mit Traum­gagen nach Russland gelockt, um ihr Know-how einzubringen und Luxusrestaurants auf internationalem Niveau zu etablieren. »Geld spielte damals keine Rolle. Alles, was wir brauchten, wurde tagesfrisch eingeflogen. In der Küche wurde Englisch gesprochen, weil unser Team aus der ganzen Welt kam. Ich war einer der wenigen, der Russisch gelernt hat, weil ich jung war und mich das Land auch privat interessiert hat«, erinnert sich der Österreicher Leo Cernko. Danach ging Cernko für vier Jahre nach Berlin ins renommierte Hotel Adlon, wo er als Küchendirektor für die gesamte Gastronomie des Hauses verantwortlich war, bevor es ihn wieder nach Russland zog – diesmal allerdings als stellvertretender GM des Hotels Baltschug Kempinsky Moscow.

Leonard Cernko
Leonard Cernko:
Sanktionen hatten auch
ihr Gutes. Foto: Kempinski
Baltschug

Zweischneidige Sanktionen

Die Verhängung der EU-Sanktionen anlässlich der Annexion der Krim, die auch zahlreiche Lebensmittel wie Gemüse, Olivenöl, Fleisch sowie Milchprodukte umfassen, erlebte Cernko im Jahr 2014 hautnah mit. Wie die meisten Russen sieht Cernko die Verhängung der Sanktionen sehr kritisch, wenngleich sie zumindest einen positiven Aspekt hatten. »Als ich 2006 zum ersten Mal nach Russland kam, war die Qualität ein­heimischer Lebensmittel zumeist schlecht. Und selbst gute russische Produkte wurden von all jenen, die es sich leisten konnten, gering geschätzt. Mit den Sanktionen ging ein patriotischer Ruck durchs Land und die Köche begaben sich auf die Suche nach russischen Spezialitäten. Plötzlich fand man auf den Märkten Spezialitäten aus dem ganzen Land«, berichtet Cernko.

Die Sanktionen und der schwächelnde Rubel machten Russland zumindest für kochende Gast­arbeiter aus Westeuropa zunehmend unattraktiv. Gleichzeitig gab es nach zwanzig Jahren in einem mehr oder weniger freien Wirtschaftssystem eine Vielzahl von professionell ausgebildeten einheimischen Köchen. Somit war die Basis für die Rückbesinnung auf eine traditionelle russische Küche in angesagten Top-Restaurants gelegt.

Matilda Shnurova und Igor Grishechkin
Foto: Victoria Dim

Von Moskau nach St. Petersburg

Igor Grishechkin hatte in Moskau die Ausbildung zum Koch absolviert und sich bis zum Sous-Chef eines angesagten Luxusrestaurants emporgearbeitet. Doch trotz seiner ungebremsten Leidenschaft fürs Kochen fand er seinen gut bezahlten Job zunehmend langweilig: Die Speisekarte blieb das ganze Jahr über gleich. Er hatte lediglich darauf zu schauen, dass sein Team keine Fehler machte und pünktlich zur Arbeit erschien. Mit der kreativen Freude, marktfrische Lebensmittel in sinnesfrohe Gerichte zu verwandeln, hatte seine damalige Tätigkeit nichts zu tun. Also übersiedelte der junge Grishechkin von der stressigen Hauptstadt Moskau nach St. Petersburg und schaltete ein paar Gänge zurück. Freunde hatten ihm vom LavkaLavka-Markt erzählt, wo ausschließlich Produkte von kleinen Bauern angeboten wurden. Er mietete einen kleinen Stand, wo er auf zwei mobilen Herdplatten täglich wechselnde Gerichte kochte. Zwei kleine Tische und ein paar Camping-Sessel stellten die bescheidene »Einrichtung« dar.

Neu Holland Insel
Matilda Shnurova und Igor Grishechkin sind auf die Neu- Holland-
Insel übergesiedelt. Im neuen CoCoCo Bistro gibt es simple
Köstlichkeiten wie russischen Lachs. Foto: Victoria Dim

Schon bald hatte er eine eingeschworene Gruppe von treuen Fans, die regelmäßig zu ihm pilgerten. Darunter befand sich auch Matilda Shnurova – eine junge Societylady ersten Ranges. Shnurova war von den Gerichten Grishechkins derart begeistert, dass sie ihm anbot, gemeinsam ein richtiges Restaurant aufzumachen. Sie mieteten ein schlecht gehendes China-Restaurant und veränderten die Einrichtung nur geringfügig. Auch das Konzept, ohne fixe Speisekarte ausschließlich mit marktfrischen Produkten zu kochen, wurde beibehalten. »Das ursprüngliche CoCoCo entwickelte sich rasch zu einem richtigen Szene-Restaurant, was natürlich auch am Engagement von Matilda lag, die für die nötige Portion Glamour sorgte«, erinnert sich Grishechkin. Im Laufe der folgenden beiden Jahre wurden die Gerichte immer komplexer und anspruchsvoller, und aus den wechselnden Tagestellern wurden zusehends kleine Gourmet-Menüs.

Mutters Lieblingsblume
»Mutters Lieblingsblume« ist der ausgefallene Name für dieses
Gericht von Igor Grishechkin. Foto: Victoria Dim

Ein Wandervogel namens CoCoCo

Im Jahr 2016 erfolgte dann der nächste Schritt. Das Gastspiel von Alain Ducasse im noblen Sofitel Hotel musste aufgrund der EU-Sanktionen wieder eingestellt werden. Auf der Suche nach einer passenden Alternative kontaktierte das Sofitel-Management Matilda Shnurova und fragte sie, ob sie nicht Lust hätte, mit ihrem Szene-Restaurant ins Luxushotel zu wechseln.

»Viele Stammgäste waren zunächst entsetzt, weil sie ihr lässiges Gourmet-Bistro verloren hatten, aber es ist uns gelungen, einen Teil von ihnen mitzunehmen. Gleichzeitig haben wir mit dem schicken Rahmen auch viele neue Gäste gewinnen können. Außerdem hat sich Igor weiter gesteigert und Menüs von inter­nationalem Format entwickelt, was auch von der ausländischen Fachpresse anerkannt wurde«, erzählt Shnurova.

Four Seasons
Das Four Seasons ist das exklusivste Hotel der Stadt, in dem man
verschiedene Küchenstile pflegt, etwa im japanischen »Sintoho«.
Foto: Four Seasons

Die Schwierigkeiten lauerten anderswo. Das größte Problem der russischen Top-Gastronomie liegt im Service. Trotz einer vergleichsweisen guten Bezahlung findet man kaum gutes, mehrsprachiges Personal. »Der Service in russischen Restaurants schwankt oft zwischen überheblicher Arroganz und unterwürfiger Ignoranz. Uns ist es im CoCoCo gelungen, ein junges, engagiertes Team zu entwickeln, das sich als aufmerksame und selbstbewusste Dienstleister versteht. Jeder Servicemitarbeiter kostet selbstverständlich die aktuellen Menüs, um sie den Gästen auch erklären zu können«, erzählt Shnurova. Allerdings galt es anfangs auch bei einheimischen Gästen Überzeugungsarbeit zu leisten. »Insbesondere in teuren Restaurants wollen russische Gäste gerne selbst auswählen. Lediglich ein vielgängiges Degustationsmenü anzubieten, wie das in westlichen Top-Restaurants fast überall üblich ist, stieß anfangs auf Unverständnis. Aber da wir unserem Konzept von ausschließlich marktfrischen Produkten treu bleiben wollten, sind wir davon nicht abgerückt«, meint Grishechkin.

Kaviar auf Platte
Foto: Four Seasons

Reif für die Insel

Obwohl sich das CoCoCo längst als unangefochtene Nummer 1 der Stadt etabliert hatte, ging es im Sommer 2020 erneut auf Wanderschaft. Shnurova hatte die Möglichkeit bekommen, ein großes Lokal auf der Neu-Holland- Insel zu mieten. Die von Milliardär Roman Abramowitsch mit enormem Aufwand renovierte Insel mitten in St. Petersburg hat sich in den letzten Jahren zu einer der angesagtesten Destinationen der Stadt entwickelt. Im Sommer finden dort unter freiem Himmel Konzerte und Theateraufführungen statt, im Winter kann man eislaufen. In den historischen Gebäuden befinden sich neben Büros auch zahlreiche trendige Shops, Cafés und Restaurants. Dies erschien Shnurova als perfekter Platz, um das CoCoCo neu zu positionieren, nämlich in doppelter Form – als legeres CoCoCo Bistro und als elegantes CoCoCouture. »Uns hat es immer leidgetan, dass wir durch die Weiterentwicklung zum Luxusrestaurant im Nobelhotel für einige junge Leute zu teuer geworden waren. Mit dem neuen Bistro können wir jetzt auch wieder ein jüngeres Publikum ansprechen, ohne beim Luxus-Konzept Kompromisse eingehen zu müssen«, erklärt Shnurova. Coronabedingt wurde die offizielle Eröffnung des CoCoCouture auf Herbst 2020 verschoben, das Bistro wurde jedoch wie geplant Ende Juni eröffnet.

Und auch die Kooperation mit dem Sofitel wurde fortgesetzt. Dort hat Shnurova jetzt ein neues Restaurant namens Bio My Bio eröffnet. Der Name ist Programm. Es wird eine ausgezeichnete, gesunde Küche mit hochwertigen Bio-Produkten angeboten, die auf die Vorlieben junger, gesundheitsbewusster Menschen eingeht. Weitgehend fleisch- und zuckerfrei steht das Bio My Bio für unbeschwerten Genuss auf höchstem Niveau. Der Lockdown während des Höhepunkts der Corona-Pandemie wurde für den Umbau genutzt. Gleichzeitig wurden die Gerichte im Take-away-Format angeboten, was sich als absoluter Renner erwies.

Restaurant Birch
Die Atmosphäre im »Birch« ist wie in einer privaten Luxuswohnung.
Foto: Birch

Keine internationalen Gäste

Das Jahr 2020 werden die Bewohner von St. Petersburg nicht so schnell vergessen. Mehr noch als alle anderen Städte des Landes lebt St. Petersburg vom Tourismus – insbesondere im Sommer. In den letzten Jahren kamen rund acht Millionen Touristen nach St. Petersburg, die Hälfte davon aus dem Ausland. Diese vier Millionen internationale Gäste blieben diesmal komplett fern, was einen schweren Schlag vor allem für die Hotellerie bedeutet. Selbst für wagemutige Abenteurer ist ein Ausflug nach St. Petersburg aufgrund der strikten russischen Einreisebestimmungen derzeit kaum möglich.

Kaviar im Ei
Fast so exklusiv wie die
Originale: Fabergé-Ei im
CoCoCo mit Kaviar.
Foto: Matilda Shnurova

Ein Gutteil der westeuropäischen Gäste hat in der Vergangenheit die Möglichkeit genutzt, St. Petersburg mit Kreuzfahrtschiffen zu besuchen, was eine visafreie Einreise für 48 Stunden beinhaltete. Doch ohne Kreuzfahrtschiffe ist dies aktuell nicht möglich. Allerdings funktioniert der Inlands-Tourismus nach wie vor. Von der Hauptstadt Moskau braucht man mit dem Schnellzug weniger als vier Stunden. Vor allem an den Wochenenden ist St. Petersburg also auch im Sommer 2020 gut besucht.

Die meisten anspruchsvollen Restaurants von St. Petersburg, die in den letzten Jahren eröffnet haben, wurden ohne Bank-Kredite von privaten Anlegern finanziert, wodurch sie die aktuelle Krise leichter meistern können als Restaurants in anderen internationalen Tourismus-Hotspots.

Eine große, kurze Geschichte

Die imperiale Pracht der historischen Bauten von St. Petersburg ist einzigartig, nicht nur die welt­berühmte Eremitage, die Teil des Winterpalasts ist.

St. Petersburg – im Volksmund kurz »Piter« genannt – wurde erst 1703 offiziell gegründet. Bereits 1712 erklärte Peter der Große St. Petersburg zur neuen Hauptstadt, obwohl es nach wie vor einer riesigen Baustelle glich. Arbeiter wurden aus ganz Russland zwangsrekrutiert, der Adel wurde per Gesetz verpflichtet, von Moskau nach St. Petersburg zu übersiedeln und errichtete dort neue Paläste. Peter der Große wollte ein gut befestigtes Tor zur westlichen Welt schaffen und somit den Einfluss Russlands vergrößern.

Die Stadt wuchs ständig und blieb bis kurz nach der russischen Revolution auch Hauptstadt des Zarenreichs. 1914 wurde die Stadt in »Petrograd« umbenannt, 1918 entschieden die Kommunisten, das zentraler gelegene Moskau zur Hauptstadt des neuen sowjetischen Staates zu machen. Nach dem Tod Lenins 1924 wurde die Stadt erneut umbenannt und hieß nun Leningrad.

Keine großen Zerstörungen

Zwar wurden die Paläste des Adels von den Kommunisten zwangsrekrutiert und die Kirchen enteignet, jedoch nicht zerstört. Das histo­rische Ensemble der Altstadt ist
auch danach erhalten geblieben. Im Zweiten Weltkrieg wurde Sankt Petersburg von der Wehrmacht belagert und ausgehungert, aber nicht bombardiert. Während der Sowjetzeit wurden historische Bauten kaum gepflegt, aber St. Petersburg blieb von den architektonischen »Segnungen« der Sowjetzeit weitgehend verschont.

Seit 1991 heißt die Stadt wieder St. Petersburg. Mit rund fünf Millionen Einwohnern ist sie nach Moskau die zweitgrößte Stadt Russlands.

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