Das Restaurant »Steirereck« in Wien ist seit Jahrzehnten eines  der gastronomischen Aushänge­schilder Österreichs
Foto: Cathrine Stukhard

»Wir suchen Gastgeber und keine Soldaten«

Das Restaurant »Steirereck« in Wien ist seit Jahrzehnten eines der gastronomischen Aushänge­schilder Österreichs

von Clemens Kriegelstein
Montag, 24.08.2020
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Zwei Michelin-Sterne, 19 Punkte und stolze fünf Hauben bei Gault&Millau, seit Jahren das bestgerankte deutschsprachige Lokal in der »The-World’s-50-Best-Restau-rants«-Liste – viele sehen das Wiener Restaurant Steirereck als Aushängeschild der österreichischen Gastronomieszene an und liegen damit wohl nicht ganz falsch. Bemerkenswert ist dabei allerdings die Entwicklung des Betriebes: Im Januar 1970 hat ein steirischer Gastronom namens Heinz Reitbauer in Wien ein einfaches Wirtshaus eröffnet, in dem günstige Mittags­menüs, Schnitzel oder selbstgemachte Germknödel auf der Karte standen. Nach wenigen Jahren stieß dann mit Helmut Österreicher ein junger, aufstrebender Küchenchef zum Steirereck-Team, der in den folgenden Jahrzehnten Österreichs Kulinarikszene mitprägen sollte wie kaum ein anderer.

Dazu muss man vorausschicken: Wien war in den 1970er-Jahren kulinarisches Ödland, in dem Russische Eier, Pfeffersteak und Crêpes Suzette als Inbegriff der Hochküche galten. Dem inzwischen verstorbenen Wiener Spitzenkoch Niky Kulmer wird das Zitat zugeschrieben: »Das wichtigste Gerät in den damaligen Küchen war der Dosenöffner.« Reitbauer ging daher mit seinem Team sukzessive auf Wanderschaft, speziell nach Frankreich, um von den Betrieben zu lernen, die international den Ton angaben. Man kos tete sich bei Bocuse, Troisgros & Co. durch, machte Notizen, fotografierte Speisen. Und ließ sich von einem gewissen Eckart Witzigmann inspirieren, der ab 1978 in München ebenso dabei war, den Deutschen eine Welt jenseits von Toast Hawaii und flambierten Spießen näherzubringen. Gemeinsam mit einer Truppe von visionären Mitstreitern (u.a. Werner Matt oder Rudolf Kellner) rief Reitbauer damals das Manifest der »Neuen Wiener Küche« aus, eine Art österreichische Nouvelle Cuisine, die zukunftsweisende Maßstäbe für Saisonalität, Frische und gegen Konserven festlegen sollte. Das Ergebnis war u.a. für das Steirereck jedenfalls durchschlagend – Exkurs Ende.

Leckeres Essen
Foto: Steirereck

Erstes 4-Hauben-Lokal Österreichs

Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: 1982 zeichnete Gault &Millau das Restaurant erstmals mit einer Haube aus, etwa zehn Jahre später wurde mit der vierten Haube dem Steirereck als erstem österreichischen Betrieb die damalige Höchstbewertung (seit diesem Jahr sind es fünf Hauben) verliehen und damit eine Art gastronomischer Mythos erschaffen.

Die Jahre vergingen, der umtriebige Reitbauer war zwischendurch immer für unkonventionelle Einfälle zu haben (etwa unterschiedlichen Herren-/Damenmenüs, bei denen entweder der Fleisch- oder der Gemüseanteil bei den Gerichten höher war – eine Idee, für die einen die heutige Twitteria vermutlich teeren und federn würde … ), während Helmut Österreicher in der Küche nach Gutdünken erfolgreich walten konnte.

Ein Wirtshaus in der Heimat

Doch ein erfolgreiches Luxusrestaurant zu führen, war für Reitbauer und seine Frau Margarethe wohl nicht ausfüllend genug, also eröffneten sie 1996 am Pogusch, einem kleinen Bergpass nahe ihrer steirischen Heimat, ein altes Bauernhaus, machten quasi mitten im Wald das »Wirtshaus Steirereck« draus, in dem sich die High Society von Wien oder Graz ebenso wohlfühlt und ein Dietrich Mateschitz schon mal mit dem Hubschrauber einfliegt, wie ein verschwitzter Mountainbiker, der nur zwischendurch mal eine Stärkung braucht. Zwei Gault&Millau-Hauben schon kurz nach dem Start waren der Lohn für das spezielle Konzept. Vor allem boten sie aber dem Sohn des Hauses, Heinz Reitbauer jun., die Möglichkeit, sich in der Küche einen eigenen Stil anzueignen und die Möglichkeiten regionaler Produkte zu ent­decken.

So pendelte der Juniorchef also, inzwischen schon tatkräftig im Service und Backoffice unterstützt von seiner Ehefrau Birgit, regelmäßig zwischen der Steiermark und Wien hin und her, werkte als Küchenchef am Pogusch und teilte sich die Verantwortung in Wien mit Helmut Österreicher.

Steirereck am Wienflusse
Die Lage des Steirerecks mitten im Stadtpark, direkt am Ufer des
Wienflusses, ist nicht nur an Sommer­tagen eine Besonderheit für
eine Millionenstadt. Foto: Cathrine Stukhard

Neuer Standort als Risiko und Chance

Doch der ursprüngliche Standort des Lokals an einer großen Ausfallstraße wurde nach ein paar erfolgreichen Jahrzehnten irgendwann zu eng. Pläne, vom Erdgeschoss des Hauses auf das Dach zu übersiedeln, wurden geschmiedet und wieder verworfen, bis plötzlich ein leerstehendes Objekt mitten im zentral gelegenen Stadtpark, am Ufer des Wienflusses, gefunden und für perfekt erachtet wurde. Im Dezember 2004, nach fast 35 Jahren, wurden also die Zelte am alten Standort abgebrochen und im Januar 2005 im Stadtpark wieder aufgeschlagen.

Steirereck am Stadtpark
Foto: Cathrine Stukhard

Klar war damals, dass Heinz und Margarethe Reitbauer die Verantwortung mit Sohn und Schwiegertochter teilen wollten, die Eltern sich also ab sofort größtenteils um das steirische Wirtshaus kümmern sollten, während die Juniorchefs künftig im Wiener Leitbetrieb das Sagen hatten. Im Jahr des Umzuges setzte Gault&Millau die Bewertung noch dazu aus. Kurz nach der Übersiedlung, die neben dem neuen Standort auch ein radikal erneuertes Küchenkonzept mit sich brachte, zweifelte Küchenchef Helmut Österreicher an der neuen Linie und verließ das Steirereck. Die kulinarische Gesamtverantwortung ging also fast ansatzlos auf Heinz Reitbauer jun. über, und Ehefrau Birgit wacht seitdem als Gastgeberin über den Service.

Zu allem Überfluss stufte Gault&Millau das Lokal im ersten vollen Jahr des Bestehens um zwei auf 17 Punkte und »nur mehr« drei Hauben herab. (Im Jahr darauf waren es dann wieder vier.)
Ein Aufschrei ging durch die Szene. »Wir haben damals wahrscheinlich zu viel auf einmal gewollt«, erklärt Reitbauer (für den weiteren Artikel wollen wir das »jun.« weglassen) im HOGAPAGE-Gespräch. »Das kam nicht bei allen gut an – nicht bei den Gästen und auch nicht bei allen Mitarbeitern.« Neben Österreicher ist damals ja noch der eine oder andere weitere Mitarbeiter gegangen. Reitbauer: »Wir hatten aber zu dem Zeitpunkt keine Alternative, als weiterzumachen, uns neu zu erfinden und uns ein eigenständiges Profil zu schaffen.«

Zurück zu den Wurzeln

Für dieses eigenständige Profil besann man sich also auf seine steirischen Wurzeln mit landwirtschaftlichem Hintergrund, bei dem die Forelle mindestens den gleichen Stellenwert hat wie ein Steinbutt. Im Steirereck hat man damit eigentlich schon über zehn Jahre vor der aktuellen Nachhaltigkeits- und Klimadiskussion Trends gesetzt, die heute in aller Munde sind. Man agiert saisonal, mit nachhaltigen, qualitativ hochwertigen Lebensmitteln von regionalen Produzenten und starkem Fokus auf die Steiermark. Und was der Vater vielleicht noch als Gag vor 25 Jahren auf die Damenkarte drucken ließ – mehr Gemüse, weniger Fleisch –, ist schon längst zum allgemeinen Credo des Sohnes geworden. »Chicorée, Sellerie, Fenchel, Wasserspinat oder Paprika« lauten da schon mal die Überschriften einzelner Gerichte des großen Menüs – zumindest bis zum Hauptgang hat Fleisch maximal eine Statistenrolle. Für Reitbauer ist das nicht nur der zeitgemäßere Weg zu kochen, der auch mit Respekt vor der Natur zu tun habe, sondern auch der herausforderndere. Gemüse auf Top-Niveau zu verarbeiten und einen spannenden Geschmack zu erzielen, sei nämlich mit deutlich mehr Aufwand verbunden als beim Fleisch. Zumal sich inzwischen auch bei den meisten männlichen Gästen die Erkenntnis durchgesetzt habe, dass sich die Qualität eines Gerichtes nicht unbedingt über die Quantität der Fleischportion definiere.

Das würde jetzt nicht bedeuten, dass nicht auch mal Kaviar oder ein anderer Klassiker der Top- Gastronomie bei einem Gericht zu finden sei, aber auch der sei eben nicht um die halbe Welt geschifft, sondern käme von lokalen Produzenten mit Top-Qualität. »Wir verbannen solche Produkte nicht aus dem Restaurant, aber wir definieren uns auch nicht darüber«, klärt auch Birgit Reitbauer auf. Dieses sei aber durchaus auch international ein Trend. In Frankreich und Deutschland agiere man diesbezüglich vielleicht noch ein wenig konservativer, aber in Trendregionen wie Skandinavien oder Südamerika sei das lokale Denken mittlerweile extrem ausgeprägt. Birgit Reitbauer: »Die Fisch- und Gemüseauswahl, die wir in Österreich haben, ist ja unglaublich, um die beneiden uns viele Länder und die hilft uns dabei, außergewöhnlich zu sein. Auch das Gemüse kann der Star am Teller sein!«

Steirereck Meierei
Bilden mit ihrem Restaurant »Steirereck« und dem einen Stock
tiefer im gleichen Gebäude gelegenen Zweitlokal »Meierei« seit
vielen Jahren ein Dream-Team der Wiener Gastroszene, das auch
international Beachtung findet: Birgit und Heinz Reitbauer.
Foto: Cathrine Stukhard

Auch À-la-Carte-Gerichte

Ein Trend, dem man sich im Steirereck (inzwischen wieder) verschließt, ist die Konzentration auf ein Menü. »Wir legen Wert auf eine große Zahl von Stammgästen, die nicht nur einmal im Jahr, sondern regelmäßig kommen. Wir haben Gäste, die sind zwei- oder dreimal die Woche hier. Die wollen nicht jedes Mal das Gleiche essen. Daher haben wir nicht nur beim Menü für jeden Gang zwei Alternativen, sondern nach wie vor auch eine klassische Speisekarte, aus der der Gast wählen kann. Dieser soll auch dann kommen können, wenn er vielleicht nur Lust auf zwei Gänge hat und nicht auf das ganze Menü«, erklärt Heinz Reitbauer. Und Birgit ergänzt: »Es gibt auch noch Leute, die bestimmte Dinge eben nicht essen, die mit nur einem fixen Menü nicht glücklich werden. Denen wollen wir aber auch eine Alternative bieten.«

Steirereck Birgit und Heinz Reitbauer
Birgit und Heinz Reitbauer
Foto: Philipp Horak

Durch die große Zahl an Stammgästen baue sich zudem so etwas wie eine Beziehung zum Personal auf, bei dem die Fluktuation ebenfalls sehr gering sei. Da ruft dann schon mal ein Gast an und reserviert einen Tisch ausdrücklich im Bereich seines Lieblingskellners, man tauscht vielleicht sogar private Dinge aus und es kann – auf gut Wienerisch gesagt – durchaus »der Schmäh« zwischen Mitarbeitern und Gästen rennen. Birgit Reitbauer: »Unsere Leute dürfen auch eine Persönlichkeit haben. Wir wollen Gastgeber im Team haben und keine Soldaten.«

Wir müssen und wollen mit der Saison gehen!

Eine weitere Besonderheit im Steirereck sind die Tischkarten, die jedes Gericht erklären und die der Gast anschließend nach Hause nehmen kann. Damit will man vermeiden, dass etwa Tischgespräche ständig von langatmigen Erklärungen der Mitarbeiter bei jedem neuen Gang unterbrochen werden. Erklärungen, die sich vor allem erfahrungsgemäß ohnehin kaum jemand länger merkt, schon gar nicht nach dem dritten Glas Wein. Mit diesen Kärtchen wird einerseits die Inszenierung ein wenig zurückgenommen und andererseits hat der Gast ständig vor sich, was er im Detail gerade isst, er bekommt Infos zum Produkt und zwar auch noch zu Hause nach dem Besuch im Restaurant. Zusätzlich bekommt jedes neue Gericht eine fortlaufende Kärtchennummer, wobei eine neue Nummer nur wirklich an neue Rezepte vergeben wird, Abwandlungen erhalten eine Schrägstrich-Nummer, also etwa 738/2 oder 738/3. Und wer jetzt wissen möchte, wie oft neue Gerichte auf der Steirereck-Karte landen, muss nur den Taschenrechner zur Hand nehmen: Mit der Nummerierung wurde im Jahr 2006 begonnen, und aktuell liegt man bei einer Zahl über 1.300. Heinz Reitbauer: »Man sieht also, wir verfolgen einen sehr dynamischen Prozess in der Küche. Wir müssen und wir wollen mit der Saison gehen! Und sind dabei extrem von unseren Zulieferern abhängig. Wenn der Landwirt ein Produkt nicht mehr hat, dann ist es eben aus, dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen oder wir variieren ein bestehendes Gericht. Und das Nächste sind meine Leute in der Küche: Die sind nicht hier, um ein halbes Jahr das Gleiche zu kochen. Die brauchen dauernd die Herausforderung für Neues.«

Ob die Kombination aus dem steirischen Wirtshaus, dem Wiener Restaurant sowie dem einen Stock tiefer im gleichen Objekt gelegenen Zweitlokal »Meierei« (ebenfalls schon drei Gault& Millau-Hauben) bei der Nose-to-Tail-Verarbeitung ganzer Tiere helfe, nach dem Motto »die Edelteile fürs Hauptrestaurant, der Rest für die anderen zwei Betriebe«? »Prinzipiell schon«, lacht Reitbauer, »allerdings eher anders herum. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal ein Filet gebraten habe. Das ist doch langweilig. Die Edelteile landen jetzt eher am Pogusch und vielleicht der Rücken bei uns. Wobei ich die Bezeichnung ›Edelteil‹ ohnehin nicht mag. Jedes Teil eines Tieres ist edel. Aber wir züchten und schlachten ja selber in der Steiermark, das heißt wir müssen und wir dürfen das ganze Tier verarbeiten. Das hat mit Respekt gegenüber dem Tier zu tun, und das geht mit drei Betrieben natürlich einfacher.«

Steirereck Brokkoli
Foto: Steirereck

Festerer Stand durch drei Beine

Und wie sieht es mit der Rentabilität der Top-Gastronomie in Österreich aus? Preise von knapp 270 Euro für das große 7-Gang-Menü mit Weinbegleitung klingen zwar viel, sind im internationalen Vergleich in dieser Liga jedoch eher moderat. Selbst in Österreich gibt es Kollegen, die mit weniger Hemmungen kalkulieren. Eine 100- prozentige Auslastungsquote am Abend ist hier natürlich hilfreich, trotzdem darf man alleine die Personalkosten – an die 100 Mitarbeiter, davon 35 in der Küche, kümmern sich um bis zu 90 Gäste im Restaurant Steirer­eck und 40 bis 50 in der Meierei – nicht aus den Augen lassen.

»Man kommt nicht umhin, sich mit seinen Preisen an nationalen Gegebenheiten zu orientieren. Wenn man hier eine gewisse Schallmauer durchbricht, ist man extrem von internationalen Gästen abhängig, und das sind wir absolut nicht und wollen es auch nicht sein. Im Schnitt sind etwa 70 bis 80 Prozent unserer Gäste Einheimische. Alle drei Betriebe – Restaurant, Meierei und Wirtshaus – verdienen Geld. Wie viel das ist, hängt von unserem unternehmerischen
Geschick ab. Aber natürlich hilft uns die Struktur der drei Betriebe dabei, weil man mit Produkten leichter jonglieren und Mitarbeiter flexibler einsetzen kann. Ein Restaurant auf diesem Niveau alleine zu führen, so wie früher, wäre heute mit Sicherheit sehr viel schwerer«, so Birgit und Heinz Reitbauer unisono.

Steirereck Fisch
Foto: Steirereck

Bleibt die Frage, wie sehr das Steirereck von der Coronakrise getroffen wurde, die viele Kollegen ja in große Schwierigkeiten gestürzt hat. »Der Lockdown war natürlich hart, aber es ist gleich nach der offiziellen Wiedereröffnung im Mai zum Glück sehr gut gelaufen, da gab es bei manchen Gästen offenbar einen Nachholbedarf. Wir haben anfangs mit einem Minus von etwa einem Drittel gerechnet, also praktisch alle ausländischen Gäste und ein paar einheimische«, erklärt Heinz Reitbauer. Zum Glück habe man sich aber geirrt, die Buchungslage sei sehr bald wieder annähernd auf dem Stand vor Corona gewesen, das Minus von Gästen aus dem Ausland durch Einheimische mehr als wettgemacht. Reitbauer: »Das Vertrauen durch unsere Gäste war sehr schnell wieder da, und das gilt es in jedem Fall zu bewahren. Das Schlimmste wäre, wenn sich der Gast bei uns unwohl fühlt.«

Nachträglich jedenfalls noch mal Happy Birthday, Steirereck, und auf die nächsten erfolgreichen 50 Jahre!

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