„Die klassische Sterne-Klientel verschwindet“– Ricky Saward über vegane Spitzengastronomie
Herr Saward, am 1. November ist Weltvegantag. Haben Sie für diesen Tag etwas Besonderes in Ihrem Restaurant geplant?
Den Weltvegantag feiern wir bei uns im Restaurant jeden Tag. Der 1. November ist daher ein Tag wie jeder anderer.
Aber warum eigentlich vegan? Was war der Auslöser für Sie, das Seven Swans vegan zu gestalten?
Fünfzehn Jahre lang mit tierischen Produkten zu arbeiten war für mich der Auslöser zum Umdenken. Wenn man einmal reflektiert, wie viele Tiere man in seiner Laufbahn als Koch tatsächlich verarbeitet, ist das ziemlich erschreckend. Besonders in jungen Jahren denkt man kaum darüber nach, was man da eigentlich in den Händen hält – während man häutet, filetiert, füllt, einlegt, brät oder anrichtet.
Der Gedanke war immer derselbe: Es musste selten, luxuriös, teuer, protzig und irgendwie auch ein bisschen pervers sein. Das feinste Wagyu mit Hummer und Kaviar, dazu eine Jus mit Gänsestopfleber aufmontiert und eine Knolle Trüffel darüber gehobelt – das gilt oft als kulinarischer Höhepunkt.
Heute sehe ich das ganz anders. Jetzt ist dies für mich letztlich nur Produktinszenierung, ohne echten Fokus auf das eigentliche Handwerk. Dabei war doch genau dieses Handwerk der Grund, warum ich Koch werden wollte: Aus unscheinbaren Rohmaterialien mit Können und Technik etwas Großartiges zu erschaffen.
Welchen Herausforderungen mussten Sie sich bei der Umstellung auf ein veganes Restaurant denn stellen?
Ich habe das Restaurant bereits vegetarisch übernommen. Zu diesem Zeitpunkt haben wir ohnehin schon zu etwa 80 % vegan gekocht – es ging im Grunde nur noch um Milch, Sahne, Butter und Ei. Geschmacklich war das überhaupt kein Problem. Herausfordernd war eher der Bereich Konsistenz und Bindung – vor allem, wenn man ausschließlich mit regionalen Produkten arbeitet.
Je tiefer man jedoch in die Materie eintaucht, desto kreativer wird man im Umgang mit den Zutaten. Mit der Zeit lernt man, neue Lösungen zu finden und bestehende Techniken weiterzuentwickeln – das macht die pflanzliche Küche so spannend.
Gibt es (unerwartete) Vorteile, die sich daraus ergeben haben, das Seven Swans vegan aufzustellen?
Viele gehen davon aus, dass wir durch die vegane Küche niedrige Lebensmittelkosten haben – das stimmt aber nicht. Tatsächlich hat sich die Menge der verwendeten Produkte vervielfacht. Abgesehen davon ist das Arbeitspensum umfangreicher geworden: Es ist wesentlich aufwendiger, komplexe, tiefe Geschmäcker nur mit Gemüse zu erzeugen – vor allem, wenn man, wie wir, bewusst auf Gewürze verzichtet.
Ich sehe hierbei jedoch den Vorteil, dass wir die junge, neue Generation von „Gourmets“ anziehen. Wir haben aktuell eine Durchschnittsklientel von Anfang 20 bis Mitte 30. Das ist eine schöne und auch notwendige Entwicklung. Denn ich denke, in fünf bis zehn Jahren werden wir in den deutschen Sternerestaurants Probleme haben, diese zu füllen, da ein Gästewandel stattfinden wird. Man wird an vegetarischen oder veganen Einflüssen nicht mehr vorbeikommen.
Und gibt es auch Nachteile bei der veganen Ausrichtung?
Nachteile gibt es sicherlich auch. Ich empfinde es als anstrengender, mit den Kollegen mitzuhalten. Wir verzichten auf vieles und müssen oft Umwege gehen, um dieselbe Wirkung zu erzielen. Trotzdem testet und bewertet uns beispielsweise ein Michelin-Inspektor nach denselben Maßstäben wie ein Restaurant mit Kaviar, Hummer und Wagyu. Das erzeugt schon einen anderen Druck, wie das Gefühl, immer noch eine Schippe drauflegen zu müssen.
Zudem habe ich den Eindruck, dass die Gemüseküche in der Sternegastronomie immer noch nicht richtig wahr- bzw. ernstgenommen wird. Aber ein Wandel ist im Anflug – und darüber freue ich mich sehr, weil das Thema so wichtig ist.
Apropos Michelin-Inspektor: Ihr Restaurant ist in Deutschland als das einzige vegane Restaurant mit einem Michelin-Stern bekannt. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung bzw. dieser besondere Status?
Der „Fame“, „Hype“, „Trend“ – oder wie auch immer man es nennen will – all die Zeitungsartikel, Dokumentationen, TV-Auftritte, Preise und Ehrungen sind am Ende des Tages nur Bestätigungen für das, was dahintersteht: Fleiß, Schweiß, Schmerz, Tränen und jede Menge Stress. Freunde und Familie, die man auf dem Weg dahin hinter sich gelassen hat. Beziehungen, die scheitern, weil man lieber in der Küche steht.
Bitte nicht falsch verstehen – ich liebe diesen Beruf, und ich freue mich über alles, was wir als Team im Seven Swans gerade erleben. Wir genießen das. Aber es ist eben alles nur die Spitze des Eisbergs. Das, was bei jedem einzelnen Koch da draußen auf der Strecke bleibt, sieht kein Gast.
Fazit: Es ließt sich toll und macht sicherlich stolz – aber am Ende koche auch ich nur mit Wasser.
Was ist denn dann das Besondere an Ihren Gerichten?
Wir konzentrieren uns immer auf ein saisonales, regionales Gemüse. Dieses nehmen wir komplett auseinander – auf jegliche Art und Weise – und bearbeiten die einzelnen Teile mit unterschiedlichen Techniken, um Geschmack und Konsistenzen auf ein Niveau zu bringen, das unsere Gäste überrascht. Manchmal ergänzen wir das Hauptgemüse dann noch mit ein oder zwei Nuancen anderer Gemüsesorten oder Kräuter. Wichtig dabei ist uns, die Vielfalt eines einzigen Gemüses zu zeigen. Wir möchten demonstrieren, welch enormes Geschmacksspektrum in jeder einzelnen Sorte steckt – und daraus ein vollwertiges, facettenreiches Gericht entstehen lassen, das ausschließlich auf diesem einen Produkt basiert. Den gesamten Geschmack erzeugen wir dabei ohne Gewürze, weil wir den natürlichen Charakter der Zutaten nicht verändern wollen.
Und woher holen Sie sich die Inspiration für Ihre Gerichte?
Tatsächlich grabe ich oft tief in meiner Kindheit nach Erinnerungen. Häufig sind es einfach nur Gerüche, die sich fest verankert haben – wie zum Beispiel der Duft eines Waldes nach einem Sommerregen. Allein dieser Geruch kann schon ausreichen, um neue Ideen zu wecken. Auch visuell lasse ich mich nur von der Natur inspirieren.
Ich habe keine Kochbücher zu Hause, verbringe auch nicht stundenlang auf Instagram und scrolle durch Bilder. Ich bin überzeugt, dass Inspiration und Kopieren sehr nah beieinander liegen. Die Gefahr ist viel zu groß, sich von anderen Köchen beeinflussen zu lassen und dabei seinen eigenen roten Faden zu verlieren, sodass man der eigenen Philosophie untreu wird.
Wie reagieren eigentlich Ihre Gäste auf Ihr veganes Konzept?
Die Veganer feiern es, endlich auf dem Niveau essen gehen zu können. Die überzeugten Fleischesser gehen hinaus und sagen regelmäßig: „Verrückt, ich hab nichts vermisst!“
Besonders spannend ist die Entwicklung unseres Publikums. Früher hatten wir vor allem die klassische, etwas ältere Sternerestaurantklientel. Heute kommen überwiegend Gäste zwischen Anfang 20 bis Mitte 30 zu uns. Das ist ein gutes Zeichen und zeigt, dass wir uns in die richtige Richtung bewegen – denn die junge Generation ist die Zukunft der Gastronomie.
Auch die wachsende Zahl an Gästen von außerhalb freut mich sehr. Viele verbinden ihren Besuch bei uns inzwischen mit einer Reise. Es ist immer noch kaum zu begreifen, dass wir Gäste aus New York, Buenos Aires oder Sydney begrüßen dürfen.
Aber das Schönste ist, wenn ein älteres Pärchen das Restaurant betritt, das bereits seit 30 Jahren gemeinsam vegan lebt, und beide nach dem Dinner dann sagen, dass es das beste Essen ihres Lebens war. Mehr geht nicht!
Und wie gehen Sie mit Skeptikern und Kritikern um?
Grundsätzlich sehe ich alle Fleischesser als Skeptiker – genau bei ihnen ist die Überraschung aber meistens am größten. Das macht Spaß. Kritik tut immer weh, aber es ist auch unglaublich wichtig, diese anzunehmen sofern sie berechtigt ist. Damit umzugehen, musste ich auch erst einmal lernen. Ich strebe jeden Tag nach Perfektion, auch wenn ich weiß, dass ich sie nie erreichen werde. Aber genau dieses Streben ist es, was uns täglich besser macht.
Wo sehen Sie den veganen Trend denn in den nächsten Jahren – insbesondere in Bezug auf die Spitzengastronomie?
Wir sollten längst nicht mehr von einem Trend oder Hype sprechen – wir erleben gerade eine Entwicklung. Die Reduzierung oder teilweise auch der Verzicht auf diverse tierische Produkte ist unvermeidlich. Manche haben das verstanden, andere noch nicht. Wer glaubt, in zehn Jahren noch mit Hummer, Kaviar und Wagyu kochen zu können, täuscht sich. Wir befinden uns gerade in einem Generationswechsel der Gäste. Die klassische Sterne-Klientel wird es in wenigen Jahren nicht mehr geben. Stattdessen kommt eine neue Generation – Anfang 20 bis Mitte 30 – mit ganz anderen Werten und Erwartungen. Da kann man die klassische französische Küche, ihre Produkte und Werte über Bord werfen. Wer das nicht erkennt, wird schon bald große Probleme bekommen.
Welche Ratschläge geben Sie anderen Köchen, die überlegen, ihre Menüs vegan oder zumindest vegetarisch zu gestalten?
Ich würde sagen: Das ist genau der richtige Weg! Allerdings sollte man es Schritt für Schritt angehen – die Gäste langsam heranführen und an neue Geschmäcker gewöhnen. Dieser Prozess hat bei uns fünf Jahre gedauert. Die Schlüsselbegriffe für den Anfang sind meiner Meinung nach Reduzierung, Regionalität und Nachhaltigkeit – allerdings ohne Greenwashing und ohne diese Worte nur als Schlagworte zu benutzen.
Mein Tipp: Einfach machen. Kocht wieder mehr mit Gefühl – und damit meine ich nicht laienhaft, sondern mit Herz und Seele. Hört auf euch selbst und traut euch, auch mal ein Gericht zu servieren, das Ecken und Kanten hat und vielleicht nicht jedem gefällt. Genau daraus entsteht eine eigene Stilistik. Weg von diesem Instagram-Copy-and-Paste-Kram.
Die eigene Handschrift ist der Schlüssel zum Erfolg. Und genau da liegt meiner Meinung nach das Problem in der deutschen Gastronomie: Die meisten machen einfach das, was sie kennen oder irgendwo gesehen haben, statt sich wirklich weiterzuentwickeln – oder sie führen nur die Handschrift ihres ehemaligen Lehrmeisters fort. Ob das gut oder schlecht ist, darüber kann man streiten.
Aber wenn wir international wieder mehr Anerkennung für unsere Kulinarik gewinnen wollen, brauchen wir mehr risikofreudige Köche – solche, die nicht nur Auszeichnungen anstreben oder auf Nummer sicher gehen, sondern bereit sind, bewusst einen schweren, steinigen Umweg zu nehmen, um sich von der Masse abzuheben.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Saward!
(SAKL)